Eine neue Liebeskultur im ZEGG

Als wir uns Ende Juli auf den Weg ins ZEGG Sommercamp machten, hatten wir nur wenig konkrete Vorstellung davon, was uns dort erwarten würde. Ich hatte vor längerer Zeit eine Dokumentation gesehen und wir kannten flüchtig ein paar Leute, die dort wohnten, aber Genaueres wussten wir nicht. Wir hatten auf jeden Fall unser Zelt eingepackt und einige unbestimmte Ideen von Gemeinschaft, Öko-Dorf und freier Liebe mit im Gepäck.

Wie es uns am ZEGG Sommercamp ganz allgemein gefallen hat, könnt Ihr hier nachlesen. Was mich natürlich speziell interessiert hat, ist die besondere Liebeskultur, die im ZEGG gelebt wird. Davon handelt der heutige Artikel.

Das ZEGG (Zentrum für Experimentelle Gesellschafts Gestaltung in Bad Belzig bei Berlin) ist seit seiner Gründung vor mittlerweile 26 Jahren dafür bekannt, sehr bewusst mit Liebe, Sexualität und verschiedenen Beziehungsformen umzugehen und auf diesem Gebiet zu forschen, zu experimentieren und zu lehren. Die „Liebesakademie“ ist nur ein Beispiel dafür.

Im Vorfeld des Sommercamps hatte ich leise Bedenken, wie die Menschen und die Atmosphäre an diesem Platz wohl sein würden… sehr alternativ, ziemlich durchgeknallt oder womöglich permanent unterschwellig lüstern? Ich wurde schnell beruhigt: selten habe ich einen Ort erlebt, an dem die Menschen so entspannt mit Körperlichkeit umgehen und so geübt darin sind, zu erkennen, wo sexuell konnotierte Gefühle angemessen sind und wo nicht.

In seinem „Sexuell-Sein“ willkommen sein

Ich bin mir sicher, diese Entspanntheit kommt auch daher, dass sich die Menschen im ZEGG grundsätzlich in ihrem „Sexuell-Sein“ willkommen und angenommen fühlen dürfen. Das heißt nicht, dass ständig irgendwo sexuelle Aktivitäten stattfinden (müssen), sondern viel mehr, dass dieser Teil der Persönlichkeit nicht abgespalten und im Verborgenen gelebt werden muss, sondern dass er integriert und gefühlt werden darf. Wenn ich mein sexuelles Wesen fühlen darf, ohne es gleich ausagieren zu müssen, wird es ein ganz natürlicher Bestandteil meiner selbst, der mein Selbstbewusstsein und meine Integrität stärkt.

In einem Artikel über die Lust habe ich schon einmal beschrieben, wie ich mir Menschen vorstelle, die ihre Lust „aus dem Schatten geholt, kennen gelernt und integriert haben“:

„Ich könnte mir vorstellen, dass solche Menschen Selbstbewusstsein, Selbstbestimmung und Würde ausstrahlen. Dass sie entspannt und genährt wirken und in gutem Kontakt mit sich selbst und ihrer Umwelt sind.“

Es war spürbar bei vielen Menschen, die im ZEGG leben oder schon lange mit diesem Platz in Verbindung sind, dass sie ein ganzheitliches Verständnis und Erlebnis ihrer selbst haben, das auch die Körperlichkeit und Sexualität nicht ausschließt. Dass sie sich auch mit den „dunklen“ Seiten auseinandergesetzt haben – mit Gier, Stolz, Eifersucht, Konkurrenz, Besitzdenken – und damit (zumindest meistens) ihren Frieden gemacht haben.

Ein Haus für Kinder und ein Haus für die Liebe

Es gab ein ganzes Haus für die Kinder, wo sie spielen, toben, kreativ sein, Freundschaften schließen, gestalten und wild sein konnten. Und es gab ein ganzes Haus für die Erwachsenen, wo sie sich als sinnliche, erotische Menschen ausprobieren und begegnen konnten. In diesem Haus konnte man jederzeit ein Zimmer mieten, um miteinander „zu spielen“, einander Zärtlichkeit zu schenken und/oder Sex zu haben. Daneben gab es noch mehrere liebevoll gestaltete Liebeshütten im Wald. Die brauchte man nicht zu reservieren – es genügte, die Schuhe vor die Türe zu stellen…

So hatte alles seinen genau definierten Platz. Es gab auch einen Frauen- und einen Männerplatz und jeder achtete und respektierte die Räume der anderen. All das geschah größtenteils intuitiv und durch eine allgemein hohe Achtsamkeit, und nicht durch explizite Ge- und Verbote.

Empathiestation

Wer auf seiner „Reise“ durch die Attraktionen des Sommercamps bei sich selbst auf Verunsicherung, Ängste, Traurigkeit oder Eifersucht stieß, konnte sich an die täglich angebotene „Empathiestation“ wenden. Und auch das finde ich bemerkenswert. Eine gelebte Kultur, in der es ganz selbstverständlich ist, sich auch mal Hilfe zu holen. In der es immer ein offenes Ohr und Unterstützung gibt. In der man es nicht dem Zufall überlässt, ob gerade ein mitfühlender Mensch in der Dorfkneipe sitzt, sondern wo ein solches Angebot von Anfang an mitgedacht und mitgeplant wird.

Bildungszentrum

Um noch tiefer in diese außergewöhnliche Liebeskultur einzutauchen, werden das ganze Jahr über zahlreiche Seminare und Workshops angeboten. Das ZEGG versteht sich immer schon als Lebensgemeinschaft und Bildungszentrum. Die Erfahrungen und Erkenntnisse aus dem täglichen Zusammenleben werden reflektiert, überprüft, mit Hintergrundwissen unterlegt und an Interessierte weitergegeben. Die Seminare beinhalten immer auch einen praktischen Erfahrungsraum mit angeleiteten Übungen und transformierenden Ritualen.

Im Programm der „Liebesakademie“ habe ich zum ersten Mal auch ein Angebot gesehen, dass sich an Menschen in polyamoren Beziehungen richtet. Das heißt, Du kannst zu diesem Seminar Deine Frau und Deine Geliebte mitbringen (oder Deinen Mann und Deinen Geliebten) und Ihr könnt alle gemeinsam schauen, wie Ihr Euer Leben bereichern und lebendiger machen könnt, mit allen Gefühlen, Hoffnungen, Ängsten, Begrenzungen und Möglichkeiten, die so eine besondere Konstellation bietet. Spannend!

Aus Erfahrung gut

Bei allem was ich erlebt habe, hatte ich den Eindruck, gut aufgehoben zu sein. Mit Menschen zu tun zu haben, die aus langjähriger persönlicher Erfahrung sprechen. Die auch geeignet sind, junge Menschen bei ihren ersten Erfahrungen in Liebesdingen zu unterstützen. Ich freue mich auf die nächste Gelegenheit, wieder in diesen ganz speziellen Raum einzutauchen!

Frage an Roger Balmer von der Liebesakademie im ZEGG

Ich habe Roger gebeten, mir ein kurzes Statement zu schicken, was für ihn das Besondere an der Liebeskultur im ZEGG ist. Hier ist seine Antwort. Danke, Roger, für Deine ausführliche und differenzierte Darstellung!

Wie gehen wir damit um, dass es im Leben keine Sicherheit gibt?

Leben ist Veränderung. Das ist ein Grundgesetz , vor welcher sich unsere westliche Kultur lange mit starren Liebessystemen, dem Tabu des Todes und des Verfalles oder dem kapitalistischen Besitzdenken schützte. Das besondere an der Liebeskultur im ZEGG ist, dass wir den Wunsch nach Wachstum und Veränderung in Liebe, Beziehung und Sexualität nicht bekämpfen oder privatisieren, sondern sichtbar machen.

Wenn Wachstum und die Bejahung von Veränderung in der Beziehung keine lähmende Angst mehr auslösen, brauchen wir auch im Äußeren nicht mehr diesen Hype um das „mehr, mehr, mehr“ oder das ständig Neue. Die Reise kann im Inneren gemacht werden.

Im Wissen um den Wandel des Lebens würdigen und fördern wir alle Beziehungsformen ob Polyamorie, Monogamie oder sexuelle Freundschaften. Wichtig ist uns die Transparenz und Ehrlichkeit, mit der das eigene Liebesbild gelebt wird. Wie lebe ich Verantwortung für mich und für meine Umwelt – auch in der Art wie ich liebe? Unterdrücke ich meine Lebens- und Liebesfreude – werde ich kaum zu einem Baustein einer liebenden Zukunft; lebe ich meine Lust und Attraktionen ohne Rücksicht auf Verluste und Verletzungen – genauso wenig.

Es geht also weder um einen wurzellosen Hedonismus – der ein Kind des Konsumdenkens ist, noch um die Fortführung des einschränkenden Besitzdenkens in der Liebe, das Beziehungen erstickt. In jeder Liebesform steckt ein Teil der menschheitlichen Sehnsucht. Im Sichtbarmachen und Fördern all dieser Aspekte wie im Annehmen, dass alle Aspekte in jedem Menschen vorhanden sind,  kann Heilung und Ganzwerdung des Menschen in der Liebe entstehen. Freiheit und Verbundenheit, Intimität und Wildheit werden dann wieder zu befreundeten Polen, zwischen denen das Leben fließt.

Eine neue Liebeskultur bedarf des Wissens, dass die Liebe ein soziales Politikum ist. Daher braucht sie Untersützung und Einbettung in einen Freundeskreis oder eine Gemeinschaft, damit die Liebenden nicht völlig überfordert sind von der Schwungkraft und Dynamik von Beziehung.

Es braucht ein ganzes Dorf für eine glückliche Liebesbeziehung!

Foto: ZEGG Visions

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