Kinderbetreuung ist systemrelevant!

Keine Kita, keine Schule, kein Hort, kein Sportverein, keine Großeltern, kein Babysitter, keine Besuche bei Schulfreunden – für berufstätige Eltern fallen derzeit alle Möglichkeiten, die Kinder nicht den ganzen Tag über selbst zu betreuen, komplett flach. Und wenn ich mich so im Bekanntenkreis und in den sozialen Medien umhöre, dann tragen die Hauptlast der zusätzlichen „Care Arbeit“ ganz selbstverständlich und wie immer die Mütter:

Mit den Kindern lernen, sie emotional unterstützen, sie trösten, wenn sie ihre Freunde und ihre Freiheiten vermissen, mit ihnen spielen, Kuchen backen, Murmelbahnen durch die ganze Wohnung bauen.

Für die ganze Familie, die jetzt nicht in der Schule oder in der Firma isst, einkaufen und kochen. Wahrscheinlich auch für die Großeltern oder andere ältere Verwandte, die jetzt nicht rausgehen sollten, einkaufen, täglich mit ihnen telefonieren, ihre Sorgen und Nöte anhören und mittragen.

Das Chaos und den Dreck, den so eine Familie eben macht, wenn sie den ganzen Tag zuhause ist, einigermaßen unter Kontrolle halten. Putzen, aufräumen, Wäsche waschen. Die Haushaltshilfe, die so schwierig zu bekommen war und den Alltag so sehr erleichtert hat, kommt jetzt natürlich auch nicht.

Ja, natürlich können Kinder ab einem gewissen Alter jetzt lernen, mitzuhelfen im Haushalt, Aufgaben und Verantwortung zu übernehmen, selbstständiger zu werden. Das ist wichtig. Und doch wird jeder verstehen, dass ein Kind, das den Geschirrspüler ausräumt, nicht dieselbe Entlastung bringt wie eine erfahrene Erwachsene, die routiniert und konzentriert die Wohnung wieder in ein gemütliches, staubfreies Zuhause verwandelt.

Tja, und daneben den ganzen Job im Home Office erledigen, ob als Unternehmerin, Selbständige oder Angestellte. Telefonate führen, Emails beantworten, an Telekonferenzen teilnehmen, Projekte vorantreiben, Mitarbeiter*innen motivieren, auch in der angespannten Lage an neue Aufträge herankommen…

„…Die berufstätige Mama wird zur Home-Office Mama, die früh morgens oder spät abends „das bisschen Job erledigen darf“, weil sie ja derzeit tagsüber Besseres zu tun hat: Nämlich Klein- und Grundschulkinder betreuen.“

Christine Winnacker, Vereinbarkeitscoach

„Wer glaubt, dass Frauen und natürlich auch Männer das alles schon irgendwie hinbekommen mit flexiblen Arbeitszeiten, Home-Office und ein bisschen gutem Willen, der hat keinen Schimmer, wie zeitraubend und kräftezehrend es ist, Fünfjährige in Drei-Zimmer-Wohnungen bei Laune zu halten. Gleichzeitig zu arbeiten, ist nahezu ein Ding der Unmöglichkeit.

Barbara Vorsamer, „Corona und die Kleinen“ auf sueddeutsche.de

Während ich das hier schreibe, sitzt mein sechsjähriger Sohn auf meinem Schoß und baut an einem Lego-Schiff. Was sich in den ersten zwei Wochen noch angefühlt hat wie geschenkte Ferien, wird nun, am Ende der tatsächlichen Osterferien, zunehmend anstrengender. Vor allem weil die Perspektive fehlt.

Während mein Mann von einer Telefonkonferenz in die nächste fällt und die Welt rettet, sehe ich es vor allem als meine Aufgabe, die Familie bei guter Stimmung zu halten. Und auch ich ertappe mich dabei, dass ich mich auf Haushalt, Kind und Homeschooling konzentriere, weil es jetzt „eben notwendig ist“, und meine Arbeit hintanstelle.

Ja, ich könnte mein Kind den Großteil des Tages sich selbst überlassen, vors iPad setzen und mit Spaghetti vom Pizza-Service verpflegen. Gerade in dieser Situation, die auch für ihn belastend ist, möchte ich aber besonders aufmerksam für ihn da sein.

… und der Vater?

Doch, mein Mann übernimmt auch Aufgaben und bringt den Junior ab und an ins Bett – und für den Rest gibt es ja mich. Und da bin ich noch privilegiert – von den 1,6 Millionen Alleinerziehenden in Deutschland sind 1,44 Millionen Frauen, von denen ungefähr die Hälfte keinen Unterhalt von den Vätern bekommen. Dass diese sich wohl auch nicht aktiv an der Kinderbetreuung beteiligen werden, kann man sich vorstellen. Wieviel Schlaf diese Mütter jede Nacht bekommen und was in den Stunden, in denen die Kinder endlich im Bett sind, außer Schlaf sonst noch alles untergebracht werden muss – das ist eher schwer vorstellbar.

Schnelle und ganz praktische Hilfe ist notwendig

Fakt ist, dass Eltern und insbesondere Mütter nun schnelle und ganz praktische Hilfe benötigen – von ihren Lebensgefährten, Ehemännern, getrennt lebenden Vätern, aber genauso vom Staat und dem Rest der Gesellschaft. Es war immer schon ein fragiles Konstrukt aus vielen Komponenten, das es Müttern erlaubt hat, beruflich erfolgreich zu sein (und damit finanziell unabhängig, nicht von Altersarmut bedroht, etc…). Das nur dann wirklich gut funktioniert hat, solange die Kinder gesund und die Großeltern flexibel waren und keine Ferien ins Haus standen. Jetzt steht dieses Konstrukt am Rande des Kollapses und kann von vielen Müttern nur mit nächtlichem Einsatz, der weit über ihre persönlichen Grenzen geht, aufrechterhalten werden. Gesundheit ist das höchste Gut, das zu allererst geschützt werden muss? Wie steht es mit der Gesundheit und der physischen und psychischen Stabilität der berufstätigen Mütter?

„Schon als klar war, dass Homeschooling und Homeoffice drohten, war zu befürchten, dass es in den Familien nun schnell zurück in alte Rollenmodelle ging – falls die jemals wirklich aufgehoben waren.“

Jana Hensel, „Die Krise der Männer“ auf zeit.de

„Es wäre schön, wenn Politik und Expertengremien wie die Leopoldina demnächst Antworten auf die Frage präsentieren würden, wie professionelle Kinderbetreuung aussehen kann und soll. Doch es überrascht nicht, dass ausgerechnet dieser Aspekt fehlt und stattdessen leistungsfixiert vor allem über Schüler vor dem Abschluss nachgedacht wird. Die soziale und integrative Funktion, die Schule und Kita haben, wird nicht erwähnt, die Betreuungsfunktion nur am Rande. Diese Funktionen gehören ins Feld der Care-Arbeit. Der englische Fachbegriff bezeichnet alles rund um Pflege, Betreuung, Fürsorge, gemeinsam ist all diesen Tätigkeiten, dass sie schlecht oder gar nicht bezahlt und politisch oft ignoriert werden – wie auch jetzt.“

Barbara Vorsamer, „Corona und die Kleinen“ auf sueddeutsche.de

Die Frage der Wertschätzung von Care Arbeit – ob im Bereich der Pflege, der Kinderbetreuung oder der Hausarbeit – ist heute, in der Corona Krise, dringlicher denn je. Zum Glück dringt es langsam ins Bewusstsein, dass es sich hier tatsächlich um Arbeit handelt und nicht um die „natürliche Berufung jeder Frau, die sie mit Freude und ohne Erwartung von Anerkennung oder Gegenleistung erfüllt.“

Nicht privat sondern politisch

Gerade Frauen neigen dazu, den Fehler zu allererst bei sich selbst zu suchen und zu glauben, dass sie nur einfach nicht organisiert, talentiert, flexibel, strukturiert… genug sind, sonst würden sie das alles ja mit Links hinkriegen. Die momentane Situation in den Familien ist aber nicht mehr individuell und privat, sondern gesamtgesellschaftlich und politisch.

Wenn in der Leopoldina Kommission von 26 Expert*innen tatsächlich nur zwei Frauen sind und alle Männer über 50, wessen Lebenswirklichkeit wird hier wohl gespiegelt und welche eher ausgeblendet? Damit auch die Interessen der Familien und besonders der Kinder wahrgenommen werden, müssen wir aus dem Schneckenhaus der Isolation herauskommen und uns Gehör verschaffen.

Ja, es gibt viel Solidarität in dieser Krise, aber wie sollen Menschen einander nun unterstützen, wenn sie nicht einmal auf die Kinder der anderen aufpassen dürfen?

Daher habe ich in Elternkreisen ein paar Vorschläge eingesammelt:

  • Eine Lockerung des Kontaktverbots in der Hinsicht, dass Eltern sich zu Betreuungsgruppen zusammenschließen können, um abwechselnd für ein paar Stunden auf eine Gruppe von bis zu fünf Kindern aufzupassen.
  • Die Erlaubnis, zumindest zu einem anderen Kind (dem besten Freund / der besten Freundin) regelmäßig Kontakt haben zu können. Das würde die Kinder entspannen und die Eltern gleich mit.
  • Die Möglichkeit, dass z.B. Horterzieher*innen, die in ihren Einrichtungen jetzt nicht arbeiten können, kleinere Kindergruppen betreuen, notfalls im Park.
  • Einen konkreten Plan, wie sich in den Einrichtungen Hygienemaßnahmen umsetzen lassen und welche Kinder wann in die Betreuung zurück kehren.

Immerhin haben nun auch Eltern von Kindern unter 12 Jahren, die wegen Betreuungsverpflichtungen ihrer Arbeit nicht nachgehen können, für einen Zeitraum von sechs Wochen Anspruch auf Entschädigung in der Höhe von 67 Prozent des entstandenen Verdienstausfalls. Sollten Kitas tatsächlich bis zum Ende des Sommers gesperrt bleiben, ist das allerdings auch nur ein Tropfen auf den heißen Stein.

Jede Art von Care Arbeit ist systemrelevant und muss als solches wahrgenommen und gewürdigt werden! Lasst uns laut und stark unsere Stimme erheben, damit das, was unsere Gesellschaft tatsächlich zusammenhält, nicht länger unterbezahlt, als selbstverständlich genommen oder gar komplett ignoriert werden kann! Lasst uns Petitionen lostreten, Bürgermeister*innen anrufen und Elternverbände anstacheln. In so vielen anderen Bereichen werden nun kreative Lösungen gefunden, wird viel Geld in die Hand genommen – warum nicht auch für die „Keimzellen der Gesellschaft“, die Familien?

Weiterführende Links:

https://www.sueddeutsche.de/bildung/coronavirus-corona-krise-schulen-kinderbetreuung-1.4876048?

https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-04/gleichberechtigung-coronavirus-maenner-frauen-wissenschaftler-politiker-systemrelevante-berufe

Private Sorgearbeit: Systemrelevant und trotzdem weiterhin unsichtbar

Foto: Julia M. Cameron auf Pexels.com

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